Cranach-Magazin

Aktuelles aus der Cranach-Forschung

Cranachs Darstellung des Aktes

Einflüsse und Stellenwert

Keine anderen Werke haben Cranach berühmter gemacht als seine sinnlichen Darstellungen des weiblichen Aktes, deren elegante Konturen noch von Picasso bewundert und von ihm sowie anderen Meistern der Moderne als Vorlagen für eigene Werke genutzt wurden. Bevor Cranach im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zu diesen überlangen Kunstfigurinen fand, setzte er sich intensiv mit den unterschiedlichsten Vorbildern auseinander. So greift eines seiner ersten Aktbilder überhaupt, der 1509 vollendete Holzschnitt mit der Darstellung von Adam und Eva, Anregungen aus Dürers berühmtem Kupferstich der Stammeseltern von 1504 auf. Allerdings setzte sich Cranach hier wie in den ersten Gemäldefassungen des Themas bereits von Dürers ideal proportionierten Musterfiguren all’antica ab. Näher standen ihm in dieser Hinsicht noch die weich modellierten Akte des Venezianers Jacopo de‘ Barbari, der selbst eine Weile in Wittenberg als Hofmaler tätig gewesen war. Ihn zitierte Cranach in seinem Holzschnitt des Parisurteils von 1508 fast wörtlich.

Ebenfalls von 1509 stammt das Gemälde Venus und Amor (St. Petersburg), das neben der Kenntnis italienischer Vorbilder wieder die eines Werkes Dürers, und zwar dessen 1507 vollendete Tafel der Eva (Madrid, Museo del Prado), zur Voraussetzung hat. Thematisch betrat Cranach mit seinem Bild der Liebesgöttin Neuland, denn mit ihm schuf er den ersten lebensgroßen mythologischen Akt der Kunst nördlich der Alpen. Ihm ging der erwähnte Farbholzschnitt von 1509 unmittelbar voraus. Mit dem neutral-schwarzen Hintergrund sollte die Petersburger Venus letztlich den Prototyp für unzählige weitere Aktbilder abgeben, die in der Folge aus Cranachs Werkstatt hervorgingen. 

Werke mit Akt-Darstellungen in den Cranach-Städten:

Schon in diesen ersten Darstellungen der Venus, die sicher von den humanistischen Kreisen Wittenbergs angeregt wurden, fällt der scheinbare Widerspruch zwischen den verführerisch dargebotenen Reizen und der Warnung auf, sich ihnen hinzugeben. Mehr oder minder explizit kommt diese in den lateinischen Inschriften zum Ausdruck, die sich unmittelbar an den Betrachter richten. Vergleichbar ambivalent interpretierte Cranach in der Folge eine Reihe weiterer mythologischer Themen: Bilder des Parisurteils und der Quellnymphen beziehen ihren Reiz nicht zuletzt aus der Nacktheit ihrer Protagonisten und einer moralischen Botschaft, durch die sie erst gerechtfertigt wird.

Cranach hat nach der Reformation religiöse Historienbilder in ihrer unmittelbaren Sinnlichkeit und emotionalen Wirkung  bewusst reduziert, um damit dem von Luther vertretenen Vorrang des „Wortes Gottes“ zu entsprechen. Die Aktdarstellungen hat er hingegen in ihrer verführerischen Erotik beibehalten und in vielfältigen Variationen weiterentwickelt. Im Bereich von Themen der Mythologie und Historie geriet er hierdurch keineswegs in Widerspruch zum neuen Glauben des Protestantismus. Die erotisch wirkenden Aktdarstellungen waren mit einem zentralen Gedanken der reformatorischen Gnadenlehre durchaus vereinbar: Demnach kann der Mensch - trotz der Gebote des alten Testaments - den sündhaft-verführerischen Reizen des nackten Körpers nicht widerstehen und ist Verderben und Unheil ausgeliefert; nicht moralische Willenstärke, sondern nur göttliche Gnade kann ihn aus diesem Dilemma erretten. Diesem protestantischen Dogma  kommt eine möglichst natürlich-erotische Ausstrahlung des nackten Körpers entgegen. Der Betrachter erliegt den erotischen Reizen der bildlichen Darstellung und tappt – wie auch die Protagonisten des Bildes (etwa Paris oder Herkules) - in die Falle der Moral.

Dass latent Sündhaftigkeit im Spiel ist, wird von Cranach vielleicht durch manche proportionalen Unkorrektheiten oder gar anatomisch nicht nachvollziehbare Verdrehungen weiblicher Körper (etwa in Cranachs Darstellungen des Parisurteils) angedeutet. Wahrscheinlich verzichtet Cranach - aus den besagten dogmatischen Gründen - bewusst auf jene Darstellung idealer Proportionen, die Albrecht Dürer im Streben nach einem in der Antike vorgeprägten Ideal der Vollkommenheit des menschlichen Körpers verfolgt hat. Cranachs Aktdarstellungen werden offenbar, weil sie von der Idealität der Renaissance abweichen, somit natürlicher und unverstellt erotisch wirken, als „modern“ empfunden. Doch hinter dieser vermeintlichen Modernität steht eine auf den zweiten Blick erkennbare Moralität, mit der sich Cranach in den Dienst der Reformation gestellt hat.

Guido Messling / Norbert Michels