Lutherstadt Wittenberg - Cranach-Hof Markt 4
Der Sündenfall
Die „Malerfamilie Cranach“ hat auch ein erstaunliches graphisches Œuvre hinterlassen. Schon aus der Wiener Zeit Cranachs des Älteren sind etliche Graphiken überliefert. Im Auftrag des Druckers Johannes Winterburger entwarf er unter anderem für das Passauer und Olmützer Missale Holzschnittinitialen, die Scheibe zur Auffindung des Sonntagsbuchstabens und den Kanonholzschnitt. In den ersten Wittenberger Jahren nahm er mit dem Heiltumsbuch, das mehr als einhundert Holzschnitte zum Reliquienschatz Friedrichs des Weisen umfasst, ein graphisches Großprojekt in Angriff. Noch vor 1510 entstanden außerdem Graphiken zu Themen wie „Venus und Amor“, „Das Urteil des Paris“ oder „Adam und Eva im Paradies“. Erst später folgten dazu dutzende Gemäldefassungen.
Um 1522 schuf Lucas Cranach einen Einblattholzschnitt zum „Sündenfall“ mit einer frauengestaltigen Versucherin. Die Schlange mit weiblich ausgeprägtem Oberkörper erscheint in Haartracht, Gesicht und Figur wie eine etwas gröbere Kopie Evas – die Versuchung maskiert sich weiblich und wendet sich dann an Eva. Das Motiv der Schlange mit weiblichem Oberkörper kannte Cranach u. a. von Hieronymus Boschs Gemälde „Das Jüngste Gericht“ (vor 1505), das er wenige Jahre zuvor kopiert hatte. Die Cranach’sche Kopie befindet sich heute in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Nochmals greift er dieses Motiv in den beiden 1530 entstandenen, szenenreichen Tafelgemälden zum „Paradies“ (Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden und Kunsthistorisches Museum Wien) auf.
Die frauengestaltige Versucherin hat eine lange Tradition und findet sich auch in Michelangelos Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle oder in einigen Sündenfalldarstellungen Dürers. In der deutschen Kunst des frühen 16. Jahrhunderts führt das Motiv eindrücklich die Macht der Versuchung vor Augen, beschreibt aber auch die Möglichkeit des Individuums, sich zu entscheiden. Diese didaktisch-allegorische Auslegung des Sündenfalls kündet von einem neuen Selbstbewusstsein des Individuums, mahnt aber gleichzeitig zur „Affektkontrolle und Triebbeherrschung“. (Andrea Imig, 2009) Ein Gedanke, den Cranach auch in seinen „Venus und Amor“-Gemälden aufgriff: Der sich darbietende Akt schürt das Begehren, eine beigegebene Inschrift verweist jedoch auf den herben Schmerz, der mit der kurzen, vergänglichen Wollust verbunden ist.
Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt den Stock zu diesem Sündenfall-Holzschnitt. Intakte, druckfähige Holzstöcke waren eine Geldanlage und wurden über Jahrhunderte in Druckereien aufbewahrt oder gehandelt. Der Sammler Hans Albrecht von Derschau (1754-1824) erwarb Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im Nürnberger Raum Holzstöcke. Dorthin war der Sündenfall-Holzstock aus der Cranach-Werkstatt vermutlich zuvor verkauft worden. 1844 erstand Friedrich Wilhelm IV. die Derschau-Sammlung und übergab sie dem Berliner Kupferstichkabinett. Von einigen Stöcken der Sammlung wurden Anfang des 19. Jahrhunderts, 1922 und letztmalig 1972, nachdem die Holzstöcke aus der Sowjetunion an das (Ost-)Berliner Kupferstichkabinett zurückgegeben worden waren, Drucke hergestellt. Der Holzschnitt im Bestand der Cranach-Stiftung ist ein Druck aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts.
Dr. Marlies Schmidt, Kunsthistorikerin, Kuratorin und stellvertretender Vorstand der Cranach-Stiftung Wittenberg
Cranach-Hof Markt 4
Markt 4
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